Wenn man sich den Deutschunterricht an einem allgemeinbildenden Gymnasium ausmalt, dann stellt man sich vor, wie 20 Schülerinnen und Schüler mit gerunzelter Stirn, vielleicht sogar augenrollend, gebeugt über Texten sitzen – viele verzweifelt angesichts der veralteten Sprache und angestrengt, der Literatur ihren Sinn für das 21. Jahrhundert abzugewinnen: Expressionistische Gedichte, in denen Häuser „dicht wie die Löcher eines Siebes“ beieinander stehen, Erzählungen, in denen ein armer Schneider sich als Graf ausgibt („Kleider machen Leute“) oder die „alte Dame“ von Dürrenmatt, die Rache an den Bewohnern einer Kleinstadt aufgrund ihrer längst überholten Moralvorstellungen übt.
Wenn man die Chance gehabt hätte, in den letzten drei Wochen einen Blick in den Deutschunterricht der neunten Klassen am Stromberg-Gymnasium zu werfen, wäre man um seine Erwartungen allerdings bitter betrogen worden: Im Rahmen der jährlichen Teilnahme am bundesweiten Wettbewerb „Jugend debattiert“ wurde im Unterricht über selbstgewählte Themen diskutiert. Die Schülerinnen und Schüler der 9c wählten ihnen ganz nahestehende Themen aus, zum Beispiel ob der Unterricht am Stromberg-Gymnasium später beginnen sollte, teilweise ging es aber angesichts der Kriegsgeschehnisse auch um die Positionierung Deutschlands in Form der Frage, ob Deutschland seine Rüstungsexporte besser regulieren solle. Anhand dieser Streitfragen wurde analysiert, was ein gutes Argument eigentlich ausmacht und wie man dieses überzeugend ausbaut. Durch zahlreiche Übungen lernten die Schülerinnen und Schüler, auf Gegenargumente einzugehen und eine Diskussion so auf fruchtbare Weise voranzutreiben.
Am Ende der in den neunten Klassen zeitgleich stattfindenden Unterrichtseinheit stand die Wahl von Klassensiegern, sodass im Schulfinale insgesamt acht Schülerinnen und Schüler in zwei Qualifikationsdebatten gegeneinander antraten. In Anwesenheit aller neunten Klassen wurden Streitfragen diskutiert, in denen die Pro-Seite persönliche Freiheit, Verantwortungsbewusstsein und Selbstbestimmung betonte, während auf der anderen Seite die Forderung nach staatlichen Vorgaben und schulischen Sanktionierungen stand. Die Streitfrage der ersten Qualifikationsdebatte war, ob an Kinder und Jugendliche gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel verboten werden sollte; während die andere Gruppe sich damit auseinandersetzte, ob Mobbing am Stromberg-Gymnasium eine härtere Bestrafung nach sich ziehen muss. In beiden Fällen waren sich die Debattierenden über das bestehende Problem natürlich einig, befanden wie bereits angedeutet aber unterschiedliche Maßnahmen für geeignet, um sich dem entgegenzustellen. Die Debattierenden bewiesen hier alle gute Sachkenntnis, beleuchteten das Thema von verschiedenen Seiten und verstanden es, ihre Argumente verständlich zu formulieren.
Letztendlich qualifizierten sich für die Finalrunde mit dem Thema „Sollen Toilettenräume an Schulen grundsätzlich genderneutral sein?“ Sina Günter und Mats Nienhaus (beide aus der 9b), die dann als Pro-Seite gegen Erik Daubner (9b) und Marie Porsche (9c) ins Finale zogen. Sina und Mats beriefen sich dabei insbesondere auf zehn erfolgreich laufende Modellschulen innerhalb Deutschlands, an denen die Einführung genderneutraler Toiletten vor allem den Zusammenhalt und das gegenseitige Verständnis innerhalb der Schulgemeinschaft gefördert hätten, während Marie und Erik diese Maßnahme anhand von Themen wie Sauberkeit, Sicherheit und Privatsphäre hinterfragten. Für das Regionalfinale durchsetzen konnten sich letzten Endes Sina Günter, die von der Jury für ihr außerordentlich gutes Ausdrucksvermögen gelobt wurde, und Mats Nienhaus, der durch seinen hervorragenden Umgang mit seinem Sachwissen bestach. Befragt nach der Bedeutung von „Jugend debattiert“ antwortete Sina: „Man lernt etwas für das Leben, was man im Vergleich zu einer Gedichtinterpretation direkt anwenden kann.“ Mit der Teilnahme an „Jugend debattiert“ stellt der Deutschunterricht damit einen ganz klaren Bezug zum 21. Jahrhundert her. In Zeiten, in denen sich qua Social Media quasi jeder zum vermeintlichen Experten erheben kann, sind die Jugendlichen mehr denn je gefragt, Meinung von Argument zu unterscheiden und sich dieser Entwicklung durch ihre eigene Gesprächsfähigkeit entgegenzusetzen.
Bericht: Jk