Was die Uni Heidelberg und das Learnlife-Center Barcelona mit dem Nebenweg in Vaihingen verbindet
Früh übt sich, wer ein Eigenheim bauen will – zumindest in Singapur. Dort bekommen Schülerinnen und Schüler schon in Klasse 6 die Aufgabe, ein Modell für ein „Smart Home“ zu bauen. Damit sie wissen, wie das geht, lernen sie zunächst im Unterricht, was Elektrizität ist, wie ein Stromkreislauf funktioniert und wie Energie erzeugt wird, was erneuerbare Energie und was Nachhaltigkeit ist. Anschließend arbeiten sie in kleinen Gruppen zusammen und bauen Häuser aus Pappkarton. Mit Hilfe eines Baukastens dürfen sie diese dann mit einem Stromkreislauf ausstatten. Die Energiegewinnung für die Mini-Smart-Homes erfolgt über Solarzellen und Windräder.
Müssen Schülerinnen und Schüler hierzulade so etwas auch können? „Ja“, meint Dr. Anne Sliwka, Professorin für Bildungswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Das Unterrichtsbeispiel aus Singapur entstammt einem ihrer Vorträge. Darin erläutert sie auch, welcher Trend sich bei den beruflichen Herausforderungen zeigt, die zukünftig auf Abiturienten zukommen: Aufgaben, bei denen Berufstätige in Teams unstrukturierte Probleme lösen müssen, gewinnen an Bedeutung. Alle Arten von Routineaufgaben, sowohl manuell als auch kognitiv, nehmen dagegen sehr stark ab. Auf diese zukünftigen Herausforderungen müssen sich Kinder und Jugendliche vorbereiten können. Soll heißen: Im Unterricht müssen stärker und konsequenter die „21st Century Skills“, die so genannten „vier Ks“, trainiert werden: kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität. Insgesamt sieht sie Bildungssysteme weltweit in einem „Paradigmenwechsel“ begriffen, der sich „im Spannungsfeld von Digitalisierung und 21st Century Skills“ vollzieht.
Um zu erforschen, wie sich der Unterricht hierfür verändern muss, hat Sliwka gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr. Britta Klopsch, Juniorprofessorin für Schulpädagogik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), das Pilotprojekt „Deeper Learning“ ins Leben gerufen. Namhafte Förderer dafür fand sie in der Robert Bosch Stiftung und der Deutschen Telekom Stiftung. Als sie vor knapp zwei Jahren bei Schulleiterin Katja Kranich anfragte, ob das Stromberg-Gymnasium als Teil eines Bildungsnetzwerks von insgesamt neun Schulen daran teilnehmen wolle, rannte sie bei ihr offene Türen ein. Nach Ansicht der Direktorin ist die Zeit längst reif „für einen Paradigmenwechsel und für die Frage, wie die Schule der Zukunft gestaltet werden muss“.
Ergebnis dieser Zusammenarbeit zwischen dem Stromberg-Gymnasium und der Heidelberger Universität ist eine Deeper-Learning-Einheit in Klasse 9 zum Thema „Sozialer Zusammenhalt und soziale Ungleichheit“. Im Rahmen dieser acht Wochen langen Unterrichtseinheit erhalten die Schülerinnen und Schüler zunächst eine Einführung in zentrales Wissen, das sie benötigen, um mit dem Thema später produktiv arbeiten zu können. Beim Wissenserwerb unterstützen sie Lehrkräfte, die ihre Expertise in unterschiedlichen Fächern mitbringen und im Lauf der Unterrichtseinheit zunehmend einen Rollenwechsel von der klassischen Lehrkraft zum „Lern-Coach“ vollziehen. In Phase zwei erproben die Jugendlichen das erworbene Wissen in Einzel- oder Gruppenarbeit an unterschiedlichen Aufgaben, die in Phase drei schließlich in einer so genannten „authentischen Leistung“ münden.
Die Leistungen, die das Projekt im vergangenen Schuljahr hervorbrachte, waren äußerst unterschiedlich: Eine Gruppe drückte ihren Lernzuwachs in einem Video über Formen von Sexismus aus, eine andere veröffentlichte eine Abhandlung über „Homosexualität im Ländervergleich“. Ein drittes Team programmierte ein Computerspiel, das von seinem Spieler eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Chancengleichheit verlangt.
Das Deeper-Learning-Projekt in Klasse 9 soll indes nicht isoliert im Unterrichtsalltag dastehen: „Wir setzen auch in den anderen Klassenstufen zunehmend auf projektbasiertes Lernen“, so Schulleiterin Kranich. Bereits ab Klasse 5 haben Schülerinnen und Schüler des Stromberg-Gymnasiums immer wieder die Möglichkeit, sich in unterschiedlichen Fächern mit einzelnen Themen vertieft und projektbasiert zu beschäftigen.
Seinen Höhepunkt hat „Deeper Learning“ am Stromberg-Gymnasium in Klasse 10. Im Rahmen des Projekts „Future Skills“ befassen sich die Schülerinnen und Schüler im zweiten Halbjahr jede Woche fast einen ganzen Unterrichtsvormittag lang in Gruppen mit einem Zukunftsthema ihrer Wahl. Anregungen bei der Themenwahl liefern die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele, die „Sustainable Development Goals“ (SDGs) der Vereinten Nationen. Auch hier ist das Ziel, nach einer Phase der Wissensaneignung die gewonnenen Erkenntnisse in einem authentischen, selbst gewählten Lernprodukt aufgehen zu lassen. Beim vergangenen Durchlauf im Schuljahr 2021/2022 entstand etwa ein hochprofessionell anmutender Film zum Thema „Instagram – Fluch und Segen“. Um zu solchen Ergebnissen zu kommen, sprechen die Jugendlichen auch mit Experten für ihr Thema außerhalb der Schule.
Auch Katja Kranich greift gerne auf die Unterstützung von Experten jenseits des Stromberg-Gymnasiums zurück. Um ihre Schule zukunftsfähig zu machen, hat die Direktorin in den vergangenen Jahren zahlreiche Kontakte geknüpft. Als besonders fruchtbar hat sich die Verbindung zum Learnlife-Center Barcelona erwiesen, einer Bildungseinrichtung, in der Kinder und Jugendliche durchgängig an ihren Stärken orientiert und ohne Notendruck lernen. Ihre Lehrkräfte fungieren dabei als Mentoren und „Learning Guides“. Ende Januar gestaltete der dort tätige Georgi Panayotov am Stromberg-Gymnasium einen Workshop mit dem Ziel, insbesondere die Lehrkräfte des Future-Skills-Projekts, aber auch weitere Kolleginnen und Kollegen, mit der Methodik des „Deeper Learning“ vertraut zu machen.
Bis Schulen in Deutschland ihre Schülerinnen und Schüler konsequent auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten, ist es noch ein langer Weg, weiß Schulleiterin Kranich. Auf diesem Weg müssen auch die Möglichkeiten der Digitalisierung weiter erschlossen werden, findet sie: „Digitale Medien eröffnen eine ganz neue Dimension des Lernens“. Durch die im Internet zur Verfügung stehenden Quellen und Materialien könne der individuelle Lernprozess viel differenzierter und passgenauer werden – gerade beim projektbasierten Unterricht. „Erst wenn die fast unendliche Ressource digitaler Medien für individuelles Lernen genutzt wird, kann man ernsthaft von Digitalisierung in Schulen sprechen.“ Ein Prozess, der noch Zeit in Anspruch nehmen wird. Aber ein „Smart Home“ ist ja auch nicht nach einem Tag fertig.
Bericht: Sy, Foto: Kc