Zwischen Identifikation und Befremdung: Schüler lesen teamspeak-Protokoll eines Online-Games und ermitteln Straftatbestand

Den „roten Faden“ zu finden war beim diesjährigen Frederick-Tag zunächst etwas schwierig: Der Autor und Dramaturg Thomas Richardt war dieses Jahr als Gast eingeladen. 97 Achtklässler erwarteten die Eröffnungsveranstaltung des in Münster lebenden und unter anderem auch in Stuttgart am Literaturhaus tätigen Autors voller Spannung: Das Bühnenbild bildete eine Sequenz aus dem Online-Game „Cyber Dogs“ mit dem Avatar des Cybercops Joachim Roller. Die Rolle Rollers definiert er klar: Es geht um die Ermittlung in einem Verdachtsfall der Cyberkriminalität und sie, die Schüler, sind aufgerufen mit zu ermitteln.

Die Ermittlung fand anschließend in jeder der vier achten Klassen statt: Gegenstand des szenischen Lesens war ein vermeintlich echtes teamspeak-Protokoll eines Online-Games mit 30 Teilnehmern, das mit dem realen Selbstmord eines Teilnehmers endet: Körperliche Distanz, wie sie Millionen Schüler in Zeiten des  Fernlernunterrichts mehr als zuvor in Online-Games erfahren haben, endet hier, in diesem Theaterstück, in der größtmöglichen Tragik. Und sie fordert, die Frage nach Mitschuld und Täterschaft zu beantworten. Die szenische Lesefähigkeit der Schülerinnen und Schüler offenbarte Vertrautheit und Identifikation mit dem Slang des Online-Gamings und Befremdung zugleich. Auch hier sind die Grenzen in der Wahrnehmung fließend: Ist das noch meine Rolle oder bin ich das?

Klar definiert war hingegen der Auftrag zur Ermittlung: Die Begriffe Cybermobbing, Cybergrooming, Hatespeech, digitale Erpressung werden als mögliche Straftaten der Aussage „keine Straftat“ gegenübergestellt. Der Urteilsfindung vorgelagert wird dann kein Paragraphenstudium des Strafgesetzbuches, sondern ein Rollenspiel zur Einfühlung: Die Rolle eines Haters, eines Unterstützers und eines „Opfers“ werden in Dreiergruppen in Szene gesetzt und anschließend die eigenen Erfahrungen reflektiert. Insbesondere die Motivation eines Haters geriet dabei in den Fokus.

Wie kann man sich und andere vor Cybermobbing schützen? Diese Frage ergab sich zwangsläufig aus der Auswertung der szenischen Lesung und des Rollenspiels: Richardt hatte hier „Angebote“ mitgebracht, die für die Jugendlichen aus der Distanz heraus (im Offline-Modus) sofort nachvollziehbar waren:
1. Andere um Unterstützung bitten
2. Nicht auf bloße Hate-Kommentare reagieren
3. Spread love

Nach geheimer Abstimmung jedes Teilnehmers kam es im gemeinsamen Plenum zu einer Votierung: Die Mehrheit hatte sich für Cybermobbing als Straftatbestand entschieden. Warum das im Speech-Protokoll dokumentierte Handeln über die Straftatbestände „digitale Erpressung“ und „Hatespeech“ hinausging und warum kein „Cybergrooming“ vorlag – das zu diskutieren, hätte mehr Zeit erfordert. Doch den Blick auf diese Differenzierung von Cyberkriminalität zu lenken, ist aus pädagogischer Sicht in jedem Fall sehr wertvoll.

Thomas Richardt löste seine Rolle als Cybercop erst ganz am Ende der Veranstaltung auf. Schade, dass er keine Möglichkeit bereithielt, persönlich ins Gespräch zu kommen, z.B. über seine Rolle im wirklichen Leben als Dramaturg und Autor. Richardt rundete stattdessen den Dramentag mit einem kurzen Quiz ab, bei dem es ein Handy zu gewinnen gab, eines ohne digitalen Raum aus der Zutat Schokolade, da kann nicht so viel passieren. Der Zeitraum eines Vormittags reichte für die Thematik natürlich nicht. Es fehlte Raum für eigene textliche Auseinandersetzungen. Die Cyberwelt als die moderne Fiktion wäre ein mögliches Metathema.

Offensichtlich ist, dass der Autor in seinem Theaterstück ein persönliches Anliegen zum Thema gemacht hat: Jugendliche für verschiedene Verhaltensweisen im Internet sowie deren mögliche Auswirkungen zu sensibilisieren und sie im Umgang mit Cybermobbing zu stärken. Die Reaktionen der Schülerinnenn und Schüler zeigten, dass er in dieser Hinsicht wertvolle Impulse gegeben hat.

Bericht: Ht, Fotos:  Er