Die Anderen

„Was, wenn sie mich nicht verstehen?“, Was kann ich schon verlieren?“ „War ER jetzt der andere?“

Der erstmals von der VKZ durchgeführte Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Die Anderen“ beschäftigte in diesem Halbjahr einige Oberstufenschüler*innen aus dem Leistungskurs im Fach Deutsch. Das Thema warf viele dieser Fragen auf, ließ Platz zum Nachdenken, zum Perspektivwechsel, aber auch zum Reflektieren und zur Darstellung und Verarbeitung persönlicher Erfahrungen, gerade auch in diesem „besonderen“ Jahr.

Als zweit- und drittplatzierte Gewinner konnten sich schließlich Cara Schabernack (J1) und Moritz Tornow (J1) durchsetzen, deren Kurzgeschichten von der Jury sehr gelobt wurden (vgl. Texte und Kritiken im Anschluss).

Doch „[w]eil die Jury alle eingereichten Kurzgeschichten als druckreif erachtet“ (vgl. VKZ) lohnt es sich, die YENZ-Seiten der VKZ in den nächsten Wochen  zu studieren. Alle eingereichten Kurzgeschichten werden dort nach und nach zu lesen sein.

Jugendliche ohne Bezug zu Literatur? Dieses Vorurteil haben laut der VKZ die Teilnehmer des Wettbewerbs eindeutig widerlegt und so plant die Zeitung auf jeden Fall eine Wiederholung dieses gelungenen Schreibwettbewerbs.

Artikel der VKZ dazu:

https://www.vkz.de/lokales/vaihingen/die-anderen-haben-bewegt/ und https://www.vkz.de/yenz/

2. Platz des VKZ Kurzgeschichten-Wettbewerbs

von Cara Schabernack (J1)

Die Anderen

Was, wenn sie mich nicht verstehen? Sie werden mich auslachen, ganz bestimmt, dachte sie, als sie ihre zwei Freunde aus dem Augenwinkel musterte.

Diese hatten eine breite Auswahl an Früchten auf der gelben Picknickdecke ausgebreitet, die Emma nur wenig interessierten. Sie war zu sehr in den Tiefen ihrer eigenen Gedankenwelt versunken. Lediglich ein kleines Gänseblümchen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Unbarmherzig rupfte sie die kleine Blume aus ihrem erdigen Zuhause und begann an ihren Blättern herumzuzupfen.

Wenn sie nur wüssten, dachte Emma, sie würden mich verurteilen. Ganz bestimmt. Ob sie überhaupt noch etwas mit mir zu tun haben wollen würden? Unwahrscheinlich.

Blütenblätter fielen.

Wie oft sie schon so getan hatte, als wäre sie genau wie die anderen. Passte sich an ihren Lebensstil an, um nicht aufzufallen. Sich selbst hatte sie so sehr davon überzeugt, durchschnittlich zu sein, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie sie sich damit innerlich zerstörte.

Durchschnittlich sein.

Ein durchschnittliches Mädchen mit einem durchschnittlichen Aussehen, einer durchschnittlichen Familie, durchschnittlichen Noten, durchschnittlichen Interessen. Ja, es kam ihr so vor, als wäre nichts an ihr wirklich besonders. Ihre Freunde hatten Talente. Sie konnten singen, tanzen oder zeichnen. Emma hatte keine Talente. Nur in einer Sache unterschied sie sich von den anderen. Ein Talent war das aber ganz sicher nicht.

Das Gänseblümchen verlor weitere Blätter.

Ewig konnte sie es nicht verstecken. Wollte sie auch gar nicht. Sie wollte zu sich stehen. Nicht so tun als wär sie jemand anderes. Würde ihre Angst vor der Ablehnung jemals verschwinden? Würde sie verschwinden, wenn Emma nur lange genug wartete?

Nein, würde sie nicht. Rationalität ergriff sie. Ängste gehen nicht einfach weg. Man musste sich ihnen stellen. Ob es ihr nun recht war, oder nicht.

Kahler und kahler wurde das kleine Blümchen.

Sie musste es ihnen jetzt sagen. Einen so passenden Moment würde sie nie wieder finden. Die Mauer, hinter der sie ihre Gefühle versteckte, begann zu bröckeln. Alles, was dahinter verborgen war, drohte hervorzuströmen. Es war, als loderte ein Feuer in ihrem Inneren auf, das all die Sorgen zu Asche und Staub verwandelte. Emma hatte genug.

Sie warf einen letzten entschlossenen Blick auf das unschuldige Gänseblümchen, nahm all den Mut zusammen, den sie in sich trug und zerdrückte es fest in ihrer bebenden Hand. Die Worte, die schon viel zu lange darauf gewartet hatten, ausgesprochen zu werden, sprudelten ihr nur so aus dem Mund.

„Wisst ihr was?“, sagte Emma, „ich mag gar keine Erdbeeren!“

Jury-Kritik der VKZ (Ausgabe Nr. 163, Montag, 19.07.2021, Lokales)
„Die Geschichte ist handwerklich wirklich sehr gut gemacht. Sie hat einen offenen Anfang, ein offenes Ende sowie schöne Leitmotive, die auch immer wieder aufgegriffen werden.“ „Besonders gelungen ist die Pointe der 17-Jährigen, die der Geschichte eine gewisse Leichtigkeit verleiht, die aufgebaute, düstere Stimmung gekonnt und gewollt durchbricht und das „Anderssein“ quasi persifliert“.

3. Platz des VKZ Kurzgeschichten-Wettbewerbs

von Moritz Tornow (J1)

Die Lagune, die keine Sterne reflektiert Die in rotes Licht getauchte, unterirdische Höhle resoniert mit der dumpfen Orchestermusik, die mir entgegensteigt -die jammernden Stimmen, die dissonanten Geigen und die dumpfen Trommeln, die wie ein Gewitter rumpeln.

Soweit ich sehen kann, ist der Boden unter mir eine dünne Glasschicht, die mich gerade so von dem darunter liegenden Wasser trennt. Im faden Licht wirkt die Oberfläche wie schwarzes Eis, das jederzeit alles schlucken könnte, was mit ihm in Berührung kommt. Aus dem Wasser erheben sich beinahe hunderte majestätischer Säulen. Sie schlängeln sich bis hoch zur Decke der Höhle. Erhellt werden sie von kleinen rötlichen Lampen am Fuße der Strukturen. Zusammen kreieren sie ein Trugbild eines blutroten Waldes aus strahlenden Stämmen, die sich in die Dunkelheit hineinstrecken.

Ich bleibe am Fuße der Treppe stehen. Das Schauspiel, das mir dort geboten wird, ist unglaublich. Flach atmend setze ich meinen Weg durch den roten Nebel fort. Die Luft hier unten ist stickiger als vermutet. In der Ferne erblicke ich die Menschenmasse. “Endlich!”, schnaufe ich. Wie magisch angezogen fliege ich beinahe zu den Anderen. Sie sitzen auf extra eingerichteten Plattformen um das Orchester herum. Weitere hundert stehen auf schmalen Promenaden. Sie lehnen sich an die Geländer, ihr Blick ins Wasser gerichtet, während sie dem Klang der Musik lauschen. Zum ersten Mal nehme ich die Ausmaße meiner Umgebung wahr. Die Masse besteht aus tausenden Silhouetten, alle auf eine Sache fokussiert. Ich suche vergeblich nach ihr. Stattdessen erblicke ich Leute in Abendkleidern, ihren schönsten Anoraks, Burkas und vieles mehr. Sie kann ich beim besten Willen nicht finden.

Es ist nahezu unmöglich jemand anderen in der Masse der Vielen zu finden. Man müsste meinen sie steche heraus, doch eher geht sie unter im Schwall der Anwesenden. Trotzdem, den Mut habe ich noch nicht aufgegeben. Ich mache einen selbstbewussten Schritt vorwärts, nur um auf das Labyrinth des Minotaurus zu blicken, so erscheint es mir. Die einzelne Promenade teilt sich schnell in zwei, dann drei Wege. Sie ergeben einen Irrgarten, schwebend über dem Wasser. Wie in einem dunklen Wald, murmele ich verdrossen. Ich wage einen Blick über das Geländer, tief in das Wasser. Es ist so tief, dass man kaum den Boden erkennen kann. Dafür ist es aber überraschend klar. Jetzt kann ich auch die tiefsten Stellen ausmachen. Sie sind steinern, mit einer dünnen Schicht von Salz überzogen. Da wagt auch eine Frau neben mir den Blick in das einladend aussehende Nass. Anders als ich, lehnt sie sich aber zu weit hinüber. Eine böse Vorahnung ergreift mich. Hastig will ich noch den seidenen Stoff ihres Kleides fassen, doch es ist schon zu spät. Mit einem dumpfen Knall landet sie bäuchlings im Wasser. Ihre Hilfeschreie werden vom Orchester übertönt. Es spielt jetzt fortissimo, das jedes andere Geräusch verdrängt. Nur der kleine, zerrissene Fetzen des Kleides in meiner Hand zeugt noch von der Dame.

Voller Schreck lasse ich es hinunterfallen. Sachte kommt er auf der Oberfläche auf und sinkt langsam seiner Besitzerin hinterher.

Ich muss hier raus, schreie ich in mich hinein. Der Weg hinter mir ist bereits versperrt. Die schweren eisernen Türen, durch die ich hineinkam, sind bereits verschlossen. Nicht mal mehr ein Lufthauch zieht von oben herein. Also gibt es nur einen Weg: den nach vorne. Je tiefer ich zwischen den Podesten und den Promenaden umherschleiche, desto bedrohlicher kommt mir alles vor. Der Wald scheint sich zu verdichten. Das Licht wechselt von Rot zu Blau, zu einem zarten Türkis, bis es wieder in einem dunklen Rot erstrahlt. Die Menschenmasse wird dichter, je weiter ich mich dem Orchester nähere. Sie alle beachten mich nicht. Sie haben nur Augen für das heutige Event. „Schade“, seufze ich. Doch gleichzeitig auch faszinierend, so einen Fokus zu besitzen. Wäre ich doch nur wie sie. Wäre ich doch nur ein Anderer. Die Säulen rücken näher.

Sie scheinen mir langsam wie Wände, die mich langsam aber sicher zerdrücken wollen. Wenigstens wird die Menschenmenge hier vorne etwas dünner. Nur noch wenige versperren die Sicht auf das Orchester vor mir. So fasziniert ich auch bin, so lauter und unerträglicher wird es aber auch. Mittlerweile scheint es, als ob jedes Instrument seine eigene Melodie spielt. Es krächzt und quietscht von allen Seiten her. Das Wasser, die Säulen, der Wald, das Licht. “Ich muss hier raus!”, schreie ich verzweifelt. Eine schmale Treppe in die hinterste Ecke der Höhle bietet sich als Ausweg an. Erst zögere ich, doch dann steuere ich, erkennend es ist mein letzter Ausweg, den Abstieg an. Die Anderen bleiben zurück. Ach, könnten sie doch nur mit mir kommen. Unmöglich. Langsam klettere ich die steilen Stufen hinab. Das Wasser kommt immer näher. Der Weg hinter mir ist bereits versperrt. Die Schicht zwischen mir und der Lagune wird immer dünner. Das Licht scheint nicht bis hierher. Doch da sehe ich sie plötzlich im fahlen Schimmer sitzen.

Ich reibe mir die Augen. Ja, sie ist es! Ich rufe ihren Namen. Hier unten hallt er von den Wänden und kreiert ein Echo ohnegleichen. Zögerlich blickt sie auf. “Du?”, klingt ihre heisere Stimme zu mir hinüber. “”Ja!”, überschlägt sich meine Stimme vor Freude”. “Ich dachte, du wärst oben bei den Anderen…”, meint sie verwirrt. “Das war einmal”, beteuere ich. “Jetzt bin ich ja hier”. Tränenreich umarmen wir uns, glücklicher als jeder Andere oben auf den Plattformen. In der Lagune, die keine Sterne reflektiert.

Jury-Kritik der VKZ (Ausgabe Nr. 163, Montag, 19.07.2021, Lokales)

„[Es] ist eine gekonnt konstruierte Parabel über die Suche nach dem eigenen Weg, der von der Menschenmenge fortführt. Die unterirdische Höhle, Schauplatz der Geschichte, wird sprachlich detailliert beschrieben, die Stimmung der am Abgrund tanzenden Menschenmassen eindrucksvoll eingefangen.“