Die Kulturstarter 2018 – ein Rückblick

 

 

Ein kleiner Kreis kulturbegeisterter Schüler, Ehemaliger, Eltern und Lehrer nahm sich auch in diesem Schuljahr Zeit an den Angeboten der Kulturstarter teilzunehmen. Diese Initiative entstand vor vier Jahren aus dem Bedürfnis einiger Schüler heraus, über das bildungsplanbezogene Angebot an Oper- und Theaterangeboten der Schule hinaus an den reichhaltigen kulturellen Angeboten vor allem der Landeshauptstadt Stuttgart teilzuhaben.

In diesem Schuljahr waren die drei Bereiche Oper, Ballett und Sinfoniekonzert vertreten.

Fidelio, die einzige Oper Beethovens, eröffnete das Dreigestirn. Wir besuchten es zusammen mit dem Musikkurs J1 von Carmen Förnzler und einer kleinen Gruppe Ehemaliger sowie Eltern und Schülern Ende März. In der gewohnten minimalistischen Bühnengestaltung erschien hier Fidelio, eigentlich Leonore, aber eben als Mann verkleidet, auf der Bühne, um ihren Geliebten zu befreien. Nein, auf keinen Fall wird das eine reine Liebesgeschichte, wer Beethoven kennt weiß, dass ihm so ein selbstbezogenes Wehklagen nicht reicht. Der Befreiungsakt steht natürlich in einem größeren Kontext, dem der französischen Revolution, und dann ist dann noch die Tatsache zu erwähnen, dass hier eine Frau am Werk ist, deren Mut und grenzenlose Liebe zwar die Stellschrauben sind. Doch betreibt sie damit – nicht wissend – zugleich Politik.

Wer musikalisch die Entladungen von Energie im Ohr hat, die sich in Beethovens Sinfonik vollzieht, musste an diesem Abend mehr Geduld für einen Beethoven aufbringen, der Figuren wie z.B. den gefangenen Florestan in aller Düsterkeit klangfarblich entfaltet. Effekthascherei ist aber auch für die in das kleinbürgerliche Alltagsleben eingebundenen Figuren wie Marzelline, die Tochter des Gefängniswärters Rocco kein Mittel, das für Beethoven in Frage käme.

Zurück zur Bühne in Stuttgart: In der Mitte steht ein grauer Kubus mit Sehschlitz, von der Decke hängen 25 Mikrophone fein säuberlich in Reihen aufgehängt. Der gesprochene und gesungene Text erscheint über dem Kubus etwas zeitversetzt, nämlich als Schreibmaschinenmitschrift der gesungen Worte. Da Überwachung allein nicht ausreicht, verändert der mitschreibende und zugleich unsichtbare Protokollant den Text an Stellen, die sozusagen unter die Zensur fallen. Und so kann ein nachempfundenes historisches Ereignis aktueller denn je werden. Genau an der Stelle wird es spannend, wo doch wieder ein Anknüpfungsmoment individuelle (eben menschliche) oder gesellschaftliche Themen unübersehbar wird. Darüber werden auch unsere zum Teil opernerfahrenen Oberstufenschüler nachgedacht haben.

Das 6. Sinfoniekonzert im April dieses Jahres bot dem Publikum gleich zwei Komponisten ein Podest, die mit dem Stuttgarter Orchester als Dirigenten und Haus- und Hofkomponisten verbunden waren: Richard Strauss und Hans Werner Henze. Henzes Orchesterwerk „La selva incanata“ (1991), übersetzt „Der verwunschene Wald“, besitzt eine fesselnde Klangsprache von zauberhaften zarten, schönheitsliebenden Klängen bis hin zu rhythmischen,  durchpulsierenden Tanzwelten, die Tod und Vernichtung zu bringen scheinen. Liest man den Text der zugrundeliegenden Arie aus Henzes Oper „König Hirsch“ (1956), so lassen sich diese Klangwelten nachempfinden: „Was für eine schöne Stimme höre ich, sie ruft mich ohne Dauer.“ Hier kommt die Sehnsucht des Titelhelden nach dem Wald, der Natur, nach den Ursprüngen der tierischen Existenz zum Ausdruck. Ein paar Zeilen später heißt es: „Wenn ich mich festhalten will an ihr, zerschneidet sie meine Hände“. In diesen imaginären Gegenwelten bewegt sich Henzes Musik. Schönheit gibt es nicht ohne die Wahrnehmung der Dunkelheit. Diese Idee erinnert an Mahlers Gegenwelten, doch seine Klangsprache auch sehr an Béla Bartoks „Konzert für Orchester“.

Auch die dann folgende Komposition von Richard Strauss liegt in diesem Spannungsfeld von Schönheit und Dunkelheit, denn ihre lyrische Grundhaltung reagiert auf den traumatisierenden historischen Hintergrund von Weltkrieg und Zerstörung. Die „Vier letzten Lieder“ entstanden 1948 und sind zugleich das letzte kompositorische Vermächtnis Richard Strauss‘, sozusagen sein Abschiedsgesang. Erdenschwere liegt in den Worten Hesses und Eichendorffs vom müden Wanderer, die den Abschied von der Welt beschwören, und die weit gespannten Linien dieser wunderbaren sinfonischen Musik verweisen den Hörer auf den Übergang in die Transzendenz. Das Staatsorchester Stuttgart spannte diese weiten Bögen, über denen sich die Sopranstimme Simone Schneiders wundervoll entfalten konnte. Strauss selbst dirigierte in den 20er Jahren das Stuttgarter Orchester einige Male in der Liederhalle, zuletzt 1933 seine „Alpensinfonie“.

Den Höhepunkt bildete an diesem Abend Gustav Mahlers 1. Sinfonie (1889), mit der er den Grundstein eines Schaffens legte, welches an der Sinfonik Beethovens anknüpft und diese an die Schwelle der musikalischen Moderne führt. Wir befinden uns hier in einer ganz anderen Welt: Die Beziehung zwischen Mensch und Natur ist zerbrochen und auch die Musiksprache von Klassik und Romantik ist nicht mehr selbstverständlich. Mahlers Musik arrangiert musikalische Zitate zu Collagen, seien es die Selbstzitate aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“, seien es Klischees musikalischer Naturstimmung aus der sinfonischen Tradition (Vogelstimmen, Jagdmusik). Im 3. Satz wird dieser verfremdende Stil grotesk zugespitzt: Der Kontrabass spielt in einer herzzerreißenden Verfremdung das Lied „Bruder Jakob“, er wird erweitert zur Parodie eines „Trauermarschs“. Ein seit Beethoven erwartetes triumphales Ende wird zwar zuletzt noch geboten, doch wirkt auch dies mit theatralischen Mitteln vorgeführt, es ist Musik über den Stil eines Symphoniefinales. Mahler ist die Selbstverständlichkeit abhandengekommen, dass der Mensch mit sich im Reinen ist und in Übereinstimmung mit Welt und Natur lebt. Das seit Beethovens Symphoniekonzept stets in Aussicht gestellte sieghafte gute Ende aller Konflikte kann daher nicht mehr verlässlich eingelöst werden. Vielmehr thematisiert Mahlers Musik die Zerrissenheit der menschlichen Welt- und Selbstbeziehung in der industriellen Moderne. Die Aufführung unter der Leitung des jungen Dirigenten Daniele Rustioni verband die vielen Einzelheiten und Brüche dieser komplexen Musik zu einem großen Spannungsbogen, der in einer höchst eindrücklichen Schlussapotheose gipfelte.

Die Schüler der Jahrgangsstufen 1 und 2, die Oliver Bertrams in das Konzert begleitet hatte, ließen sich auf das für Schüler doch sehr große Klangabenteuer dieses Abends mit Interesse ein.

Mit dem Ballett „Schwanensee“ stand in diesem Jahr eines der berühmtesten Ballettstücke auf dem Programm, das am 6. Mai in der legendären Inszenierung des viele Jahre in Stuttgart wirkenden Choreographen John Cranko aus dem Jahr 1963 zu sehen war. Sicher, „Schwanensee“ ist der Inbegriff für den klassischen Tanz und man muss ihn mögen oder alternativ modernes Ballett als Einstieg in das Genre versuchen. (Dann sind es Formationen, Farben und Formen, die beeindrucken, – auch hier hat das Ballett Stuttgart Wunderbares zu bieten). Doch wer sich einließ auf diese klassische Darstellungswelt, wurde an diesem Abend belohnt mit einer einzigartigen Darbietung der Liebestragödie um den Prinzen Siegfried und der Prinzessin Odette, die – von König Rotbart verzaubert – als weißer Schwan ihr Dasein fristet und lediglich nachts ihre wahre Gestalt annehmen darf. Siegfrieds aufrichtige Liebe könnte sie befreien, wäre da nicht Odile. Aber eigentlich ist Siegfried selber schuld, da er den äußeren Schein Odiles, die Odette bis aufs Haar gleicht, fokussiert: sie gleicht Odette, allein die Farbe schwarz ist hier an die Stelle der Farbe weiß getreten, aber ihr dunkles Wesen dringt nicht in Siegfrieds Wahrnehmung, eben: der Schein trügt. Die beiden Frauenfiguren werden von einer einzigen Tänzerin getanzt, in der sich damit zwei konträre Charakter abwechselnd manifestieren: die weiße Unschuld und der schwarze Dämon, die sich nur an der Oberfläche gleichen. Der weiße Schwan, Odette, wird gezeichnet mit langsamen und eleganten Bewegungen, der schwarze Schwan, Odile, zeigt eine selbstsichere Frauenfigur: feurige und verführerische Bewegungen machen ihn aus.  Mit  Cranko endet dieses Märchen tragisch: Siegfrieds Verwechslung endet mit dem Tod der beiden Liebenden. Tschaikowskys Musik ist sehr facettenreich und birgt in sich eben mehrere Ebenen: vom oberflächigen höfischen Gebahren bis hin zur psychologischen Zeichnung des Prinzen, der anfangs von Sinnen ist in seiner Liebe zu Odette und am Ende in Liebe mit ihr vereint mit ihr zusammen gehen muss. Sehr stark sind in Crankos Inszenierung auch die Gruppenszenen, in denen das Corps de ballet beindruckt durch feinste symmetrische Formen, die immer in Bewegung bleiben. Auch hierzu ließe sich vieles sagen, allein eine Deutungsfacette sei erwähnt: diese Gruppenszenen haben vielleicht u.a. die eine Botschaft, dass wir alleine verloren sind, vom Sterben bedroht. Die Individualität will sich einfügen zugunsten einer größeren Idee.

Der Ballettabend war nachhaltig in seinen Eindrücken. 2017 war es Crankos Inszenierung von „Romeo und Julia“, das entrückende Wirkungen hinterließ.

Ein herzliches Dankeschön gilt den KollegInnen, die die Durchführung der Angebote unterstützt haben, in diesem Jahr Frau Förnzler und Herrn Bertrams.

Im nächsten Schuljahr geht es weiter mit einem neuen für Sie/euch ausgewählten Angebot! Lassen Sie sich /ihr euch überraschen!

Bericht: Barbara Hartmann, Oliver Bertrams